Drei Jahre später kam der nächste Hammer. Mittlerweile arbeitete ich in Berlin und beschloss eines Tages, dass es an der Zeit wäre, sich einen eigenen Blumenladen zuzulegen. Die Ungewissheit, ob ich das Vorkaufsrecht, einen Kredit und dann die Zukunft geregelt bekomme, haben wohl an den Nerven gezehrt. Es fing an in den Händen zu kribbeln und beim Laufen musste ich immer daran denken, dass die Beine gehen sollen, nicht hinterherhinken oder stolpern. Nachdem drei Wochen lang kein Vitamin B half, gab es eine Überweisung zum Neurologen.
Den Blumenladen hatte ich dann letztlich bekommen. Der Neurologe eröffnete mir doch genau drei Wochen nach Geschäftseröffnung auf Grund der MRT- Bilder seinen Verdacht auf MS.
Da sitze ich ihm gegenüber mit verschränkten Armen und frage mit einem Schulterzucken: "Ja, und?" Er fängt an ein wenig zu erklären und ich merke: "Ey, der verschreibt dir keine Pille und alles ist wieder gut!" Also habe ich vorsichtshalber erst einmal geweint. (Glaubt mir, so locker sehe ich erst seitdem etwa sieben Jahreins Land gegangen waren!) Als ich mich zum Gehen wandte, fragt er noch: "Machen Sie jetzt irgendwelchen Blödsinn?" Ich antworte ihm: "Nein, mein Freund hat heute Geburtstag, gleich kommen Gäste und wir gehen essen."
Dummerweise hatte ich eines Morgens noch einen Unfall. Mir passierte eigentlich nichts und ich hatte auch keine Schuld. Das Auto war dennoch Schrott und die Versicherung zahlte doch tatsächlich noch 1000,- DM. Bingo! Mehr war der Trabbi vielleicht nicht wert, für mich bedeutete er meine Existenz. Woher nun ohne Geld ein anderes Auto?
Neuwagen, Superfinanzierung! Dass ich nicht lache! Aber nicht mit gerade mal drei Monaten Selbstständigkeit. Da rückt nicht mal ein Autohaus einen Kredit raus. Na gut, ein Kumpel mit gesichertem Einkommen sprang als Bürge für mich ein. Bei ihm hatte ich ja schon den Privatkredit für den Ladenkauf! Nun kamen also noch ein paar Schulden dazu. Aber wieder etwas geregelt! Doch dem Körper war es wohl zu viel. Im Juni 1993 nahm meine Schwester drei Wochen Urlaub, stellte sich in den Laden und verfrachtete mich ins Krankenhaus! Danke Schwesterlein! Mittlerweile war es kein Laufen mehr, was ich da so Fortbewegung nannte. Je nach Stressfaktor fing ich wieder mit den Doppelbildern, Hinterherschleifen der Beine beim Laufen oder eingeschlafenen Händen an.
Nach drei Wochen KH wurde ich mit der Bestätigung der Diagnose entlassen und machte weiter wie bisher! Es gab ja Kortison!!!!
Thema Ärzte: So einige habe ich "verschlissen". Eine falsche Bemerkung zur falschen Zeit und ich wechselte sie. Dabei meinten sie es nicht einmal böse! Ein Beispiel: Am Ende eines Telefonates mit dem Neurologen, der die MS gleich vermutete, sagte er: "Dann hoffe ich, dass Sie meiner nicht mehr bedürfen!" Ok, dachte ich, dann eben nicht und suchte mir einen anderen! Heute weiß ich, dass er es ehrlich meinte und wünschte, es ginge mir fortan gut! Aber wie das eben so ist, wenn man missverstehen will, dann bekommt man es auch in den falschen Hals! Das selbe mit dem Hausarzt, der mich zu diesem Neurologen überwies. Als er von der Diagnose erfuhr, sagte er: "Das Beste wäre, Sie verkaufen den Blumenladen und gehen in Rente!" Tränen überströmt bin ich zurück in den Laden, wo eine Freundin mich für die Zeit des Arztbesuches vertrat und fiel ihr in die Arme: "Stell' Dir mal vor, was er mir geraten hat! Ich bin doch noch so jung und habe noch so viel vor!" Na klar hatte er aus seiner Sicht recht! Jeder Tag im Laden, auch wenn es mir noch so viel Freude bereitete, zehrte und zerrte an meiner Gesundheit. Vielleicht hätte er es mir auf eine andere Art beibringen sollen!
Es ging dann Schlag auf Schlag mit den Schüben und es blieb ein Teil der Schäden zurück, bis ich auf den Trichter (also auf die Idee) kam, meine Ärzte auszutricksen. Montags kam ich zu Einem hin und erzählte von einem Schub am Wochenende und dass ich alles Kortison, was ich daheim besaß, genommen hätte. Da die Meinung noch weit verbreitet war und ist, Kortison ausschleichen zu müssen, konnte ich jedes Mal ein neues Rezept locker machen. Wenn man einige Ärzte hat, funktioniert das eine ganze Weile ohne aufzufallen. Und ich hielt mich damit einigermaßen leistungsfähig, konnte den Laden weiter managen (jetzt doch mit Angestellten), zum Großmarkt fahren usw.
Irgendwann nach 11/2 Jahren habe ich es aber meinem Internisten (dem ich bis zu seinem Ruhestand treu blieb ) doch gebeichtet. Er hat kein Theater gemacht, mir nur total ernst ins Gewissen geredet, was ich denn mache, wenn jetzt mal ein Schub kommt?!? Wenn das Kortison selbst hoch dosiert nicht mehr hilft, weil der Körper dran gewöhnt ist? Na klar, hatte er recht! *grml* Seine zweite Frage war aber: "Und dann sehen Sie noch so aus?" Trotz täglich 100mg Kortison über diesen Zeitraum wog ich bei 1,73m Größße nur 67kg. Nix mit Wassereinlagerungen oder Fresssucht. Aber als es abgesetzt war, nahm ich zu! Innerhalb von drei Monaten 22kg!!!! Das war Horror pur! Wieder zum Internisten. Seine Antwort: "Man nimmt nicht ungestraft 18 Monate Kortison in solcher Dosis! Das ist die Retourekutsche." Von irgendwelchen Crashdiäten habe ich noch nie etwas gehalten. Ergo: Kalorien zählen und alles essen wegen der Ausgewogenheit, aber eben nur die Hälfte von der Hälfte! Und Gemüse ohne Ende! Innerhalb von drei Jahren hatte ich das Gewicht auf 72kg reduziert. Und das ohne zusätzliche Bewegung oder Sport. Weitere drei Jahre war ich bei 63kg und das halte ich nun ohne Probleme. Trotz Süßigkeiten oder Feiertagsorgien.
Mittlerweile war Betaferon in der Zulassungsphase. Das wollte ich haben! Der (mittlerweile neue) Neuro wollte es wegen seinem Budget nicht verschreiben. Auch keinen Antrag an die kassenärztliche Vereinigung stellen. Mit ihm hatte ich richtigen Stress und auch er kam auf die Abschussliste! Aber zu Recht. Über meine Therapeutin höre ich bis heute nur Negatives von ihm! Doch der Internist und Hausarzt hat sich dahinter geklemmt, sich die Unterlagen von Schering schicken lassen. Die erste Spritze musste ich mir bei ihm geben, damit er sieht, dass ich das Spritzen packe. Danach fuhr ich nach Hause. Zwei Stunden nach der ersten Spritze ging ein Horrorszenario los: Alle Nebenwirkungen und völlige Bewegungslosigkeit. 14 Stunden lang. Von Ibuprofen gegen die Nebenwirkungen wusste ich nichts. Es war Donnerstag abend. Freitag zum Arzt wollte ich nicht. Habe auch nicht angerufen, weil ich Angst hatte, dass er es mir wieder wegnimmt. Schließlich hatte er ja zu mir gesagt: "Wenn es Ihnen nicht schadet, bekommen Sie es!" Samstag wieder gespritzt. Dasselbe Theater, jedoch "nur" acht Stunden lang. Also Montag doch hin und berichten. Er telefonierte mit Schering und es gab Ibuprofen. Die Quintessenz war jedoch, dass ich ein Jahr mit Nebenwirkungen zu kämpfen hatte und mittlerweile oft den Rollstuhl brauchte und das Zeug endlich absetzte. Das war 1997. Da erzählte mir eine Freundin (selbst mit MS im Rolli) von der Sauerlandklinik. Da ich die Krankheit langsam, ganz langsam zu akzeptieren begann, wollte ich dahin. Ich hatte auch keine Angst, nur MS- Betroffene in allen Stadien zu sehen. Als ich dann dort ankam, musste ich doch erst einmal schlucken, aber ich war nicht alleine mit meinen Ängsten.
Vor allem, und das wog viel schwerer, musste ich genau fünf Tage vor meinem 30. Geburtstag dort antanzen. Der Termin ließ sich nicht verschieben. Ein fremdes Haus, fremde Leute und ein runder Geburtstag im Krankenhaus. Deprimierend! Eigentlich wollte ich mich dort mal umsehen, ob sich nicht etwas für das Herz und eventuell für eine Partnerschaft finden lässt. Eine Wahnsinns- Lovestory! Auf jeden Fall brauchte ich mich dort nicht fremd zu fühlen. Innerhalb dieser fünf Tage lernte ich genügend nette Leute kennen und am Samstag gab es 'ne kleine Fete im Wintergarten des Krankenhauses.
Beim ersten Aufenthalt blieb ich 51/2 Wochen und, obwohl ich mit einer Krücke (also Unterarmgehstütze *smile*) hinfuhr, kam ich im Rolli sitzend nach Hause. Ein klein wenig hatte das Umdenken schon geholfen! Ich sah den Rollstuhl mittlerweile als Hilfsmittel, nicht als Makel oder Behinderung. Wenn ich so überlege, was mich letztendlich dazu brachte, meine Einstellung zu mir und der Krankheit zu ändern, fallen mir einige wichtige Dinge ein:
ein Buch Hermann Hesse - Siddhartha, empfohlen von meinem Hausarzt
ein Buch "Meine Lügen - Deine Lügen (Falsche Erwartungen an die Liebe) ", geschenkt von einem Freund
der Beginn einer psychotherapeutischen Behandlung, die mir irgendwann nicht mehr notwendig erschien, die ich jedoch jetzt- 2005- wieder begonnen habe
die Mailingliste von Kersten, in der rund 500 MSler mehr oder weniger aktiv sind
physiotherapeutische Anwendungen (nach Voita), die ich in der Sauerlandklinik kennen lernte
die BEDINGUNGSLOSE Liebe meines (mittlerweile) Ehemannes
mein (fast unerschütterlicher) Optimismus
Krankengymnastik bekam und bekomme ich immer noch zu Hause, 2 bis 3x wöchentlich eine Stunde nach Voijta.
Klaus zog gleich bei mir ein und erklärte mir, dass wir eine größere Wohnung bräuchten. Klar, die Rollis, die Therapieliege, das MotoMed, der Rollator - das brauchte alles Platz! Als wir im darauf folgenden Frühjahr von der Hochzeitsreise wiederkamen, klappte es mit einer 100qm Wohnung und 25qm Terrasse über den Dächern der Stadt. Jetzt Renovieren. Wir waren finanziell ziemlich klamm: Aus dem Laden mit plus/minus Null raus; Klaus kein Geld, nur Kredite zu laufen; Hochzeit war teuer, hatten wir beide alleine finanziert und jetzt die Wohnung! Doch solch Gelegenheit kommt nicht jede Woche wieder, also Ärmel hochgekrempelt!
Im Jahr darauf ging ich wieder in die Sauerlandklinik. Diesmal im Januar, denn im Winter habe ich immer eine totale Durststrecke: kaum Sonne, draußen nur Matsch und Dreck und ganz und gar nicht meine Temperaturen! Dann das kleinere Übel: Krankenhaus! Obwohl die Sauerlandklinik kein Übel ist, ehrlich nicht. Und dann ist es dort um diese Jahreszeit zwar auch kalt, aber der Schnee ist weiß, die Luft klar, selbst die Sonne lässt sich oft blicken. Das tut der Psyche gut!
Nun habe ich zu jener Zeit eine Form von RLS (Restless Leggs) entwickelt, die sich zunächst besonders nachts bemerkbar machte. In der ersten Zeit wachte ich davon nicht auf, bemerkte morgens nur schmerzende Muskeln. Dies steigerte sich, bis ich davon aufwachte und mit äußerst schmerzhaften Verkrampfungen stundenlang nicht wieder einschlafen konnte. Abhilfe hätte Herumlaufen bringen können, aber eine Freundin von mir würde sagen: "Schau' mal aus dem Fenster, wenn du keinen Kopf hast!" Soll heißen mit dem Laufen hatte ich keinen Vertrag mehr. Der Zustand hielt oft ca. zwei Stunden an, danach war ich erst mal total fertig und hatte wahnsinnigen Muskelkater. Bald beschränkte sich dieses Verkrampfen nicht nur auf die Nacht, sondern begleitete mich auch tagsüber zu den verschiedensten Zeiten. Ein festes Schema ließ sich nicht erkennen, nur es begann, wenn der Körper Ruhe hatte! Nachdem ich in der Sauerlandklinik das Thema energisch auf's Tapet brachte, probierte der damalige Chefarzt, Dr. Pöhlau, ein äußerst seltsam anmutendes Medikament aus: Apomorphin. Das ist Bestandteil des Notfallkoffers von Apotheken und löst nach dem Spritzen der gesamten Dosis (10mg) in sehr kurzer Zeit einen Brechreiz aus. In verschwindet kleiner Dosis (0,25mg) half es innerhalb von Minuten gegen diese Krämpfe und verursachte keine Übelkeit. Na, was war ich glücklich. In Insulinspritzen aufgezogen konnte ich mir je nach Bedarf und "Krampflage" subkutan (unter die Haut) eine Spritze geben und hatte wieder für einige Stunden Ruhe. Etwa ein Jahr lang war das für mich die Lösung überhaupt. Doch der Körper gewöhnte sich an das Zeug, ich brauchte eine höhere Dosis und: die Spritzerei wurde eine Quälerei für mich, dass ich manchmal lieber die Krämpfe ertrug als zu spritzen. Also neue Idee bitte, Herr Doktor! Die hatte man dann auch - wieder im Sauerland! Das Medikament hieß und heißt immer noch Cabaseril. Das ist ja viel besser als die Spritzen: es sind Tabletten! Langsam Dosis steigern, bis zu einem Level, in dem man schmerz- bzw. krampffrei ist und ich bin dann wieder ein wenig heruntergegangen mit der Dosis, um auszuprobieren, wie viel ich wirklich brauche. Klasse - es funktioniert!*freu*!